T. Bräutigam: Klassiker des deutschsprachigen Dokumentarfilms

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Titel
Klassiker des deutschsprachigen Dokumentarfilms.


Autor(en)
Bräutigam, Thomas
Erschienen
Marburg 2019: Schüren Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kay Hoffmann, Haus des Dokumentarfilms, Stuttgart

Das Interesse der Film- und Medienwissenschaft am Dokumentarfilm ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen, allerdings hat dieser nach einer Boomphase zur Jahrtausendwende seit etwa zehn Jahren Schwierigkeiten, in Kino und Fernsehen ein Publikum zu finden. Dies mag unterschiedliche Gründe haben, liegt aber sicherlich auch am Medienwandel, der zunehmenden Bedeutung von Internet und Streaming-Diensten und der Digitalisierung der Kinos. Dokumentarfilme werden heute eher punktuell eingesetzt und laufen kaum noch in der Abendvorführung. So verlieren sie viel von ihrem Publikumspotential. Daher stimmt schon der erste Satz in dem Buch von Thomas Bräutigam – „Große Sorgen muss man sich um den Dokumentarfilm nicht mehr machen“ (S. 7) – nicht ganz, denn die Autorinnen und Autoren des anspruchsvollen, künstlerisch gestalteten Dokumentarfilms haben es inzwischen noch schwerer, ihre Filme finanziert zu bekommen.

Es ist verdienstvoll von Bräutigam, noch einmal an die „Klassiker des deutschsprachigen Dokumentarfilms“ zu erinnern. Das Handbuch für Einsteiger/innen ist klar strukturiert. Nach einem etwa 20-seitigen historischen Abriss zum Thema nennt Bräutigam die seiner Ansicht nach 50 besten Dokumentarfilme aus Deutschland vor 1945, aus der DDR und der Bundesrepublik bis 1990, dem vereinten Deutschland, der Schweiz und Österreich. Dies ist selbstverständlich eine subjektive Auswahl und jede Leserin und jeder Leser wird sich an Dokumentarfilme erinnern, die in dieser Liste nicht auftauchen.

Wesentlich aussagekräftiger ist die Besprechung von 139 Dokumentarfilmen, die den Kern des Buches bildet. „Primäres Kriterium für die Aufnahme in diesen Korpus ist die ästhetische Qualität, da es sich um künstlerisch gestaltete Produktionen handelt.“ (S. 8) Alphabetisch angeordnet werden dort die Filme mit Stabliste und dem DVD-Vertrieb genannt. Es folgen ausführliche Beschreibungen der Inhalte und formalen Besonderheiten. Diese Texte liefern einen guten Überblick, Bräutigam verzichtet auf eine zu theoretische Analyse. Ihm geht es darum, jeden Film zu würdigen und die Auswahl für das Buch zu begründen, mit dem er auch auf die Vielfalt der Gattung hinweist. Dies gelingt sehr gut, selbst wenn ihm ab und zu kleine Fehler unterlaufen. Die fundierte Filmbesprechung wird mit Zitaten aus Rezensionen oder wissenschaftlichen Analysen abgeschlossen. Bei vielen der Filme folgen Literaturhinweise für diejenigen, die sich gründlicher mit ihnen auseinandersetzen wollen.

Nach den Filmen kommen sehr kurze biografische Notizen zu 50 Filmemacherinnen und -machern mit einer Auswahl ihrer Dokumentarfilme. Dabei verzichtet Bräutigam ganz bewusst auf bekannte Namen wie Wim Wenders, Werner Herzog oder Alexander Kluge. Allerdings sind Frauen mit neun Nennungen unterrepräsentiert. Eine sehr gute Bibliografie, die vor allem Veröffentlichungen der vergangenen 30 Jahre nennt, spiegelt das zunehmende Interesse am Dokumentarfilm. Es folgt eine insbesondere für den pädagogischen Bereich hilfreiche Aufstellung nach Themen. Hier nennt Bräutigam die meisten Titel zum Aspekt „Arbeit(er)“ (14 Filme), gefolgt von „Jugend(liche)“ (13 Filme) und „Frauen“ (zehn Filme). Dies zeigt einmal mehr das Konzept eines Handbuchs mit guter Verschlagwortung.

Darin hat Thomas Bräutigam über die Jahre einige Erfahrungen gesammelt. Nach dem Studium der Romanistik, Germanistik und Publizistik und einer Promotion über „Hispanistik im Dritten Reich“1 machte er sich als freier Autor vor allem einen Namen im Bereich Lexika. So veröffentlichte er 2001 ein „Lexikon der Film- und Fernsehsynchronisation“2 und 2013 eine aktualisierte Neuauflage unter dem Titel „Stars und ihre deutschen Stimmen“.3 Zu dem Thema gab er 2015 zusammen mit Niels Daniel Peiler den Sammelband „Film im Transferprozess. Transdisziplinäre Studien zur Filmsynchronisation“ heraus.4 Außerdem ein „Hörspiel-Lexikon“5 und 2013, ebenfalls im Schüren Verlag, „Klassiker des Fernsehfilms“.6 In der aktuellen Publikation bleibt er als Autor trotzdem dezent im Hintergrund, biografische Angaben zu ihm fehlen.

In seiner Einführung und mit der „Sehr kurzen Geschichte des Dokumentarfilms im deutschsprachigen Raum“ zeigt er sich der groben Verallgemeinerung bewusst und spricht von einem „Holzschnitt“ (S. 26). Bräutigam macht klar, dass der Dokumentarfilm nicht die Wirklichkeit zeigt, „er liefert nicht lückenlos belegte Sachverhaltsdaten, sondern macht freie, verdichtete Aussagen zu einem Thema. Der Autor ist autonom und kann inszenieren, arrangieren, erzählen, suggerieren und die Realität ästhetisch multiplizieren, ohne dass dadurch der dokumentarische Anspruch disqualifiziert würde“ (S. 8). Der Dokumentarfilm ist ein künstlerisch gestaltetes Produkt und dies unterscheidet ihn von den „Ansichten“ aus der Frühphase des Kinos, als Ereignisse einfach „abgekurbelt“ wurden. Trotzdem habe er das Potential, historische Entwicklungen sowie Einstellungen und Mentalitäten festzuhalten. „Die Erforschung der Bewusstwerdung und Aufarbeitung des Holocaust z.B. hätte ohne Berücksichtigung der einschlägigen Filme gravierende Erkenntnisdefizite.“ (S. 9) Dies macht Dokumentarfilme zu einer wichtigen Quelle auch für Historiker/innen, Soziolog/innen, Politolog/innen und Kulturwissenschaftler/innen.

Es ist sicherlich richtig, dass im Kulturfilm der 1920er-Jahre schon sehr trickreich gearbeitet wurde und er als Experimentierfeld für die Entwicklung der Filmkunst diente. Ästhetisch waren die Montage des russischen Films und der Kamerastil des Bergfilmers Arnold Fanck sehr einflussreich, der Leni Riefenstahl als Schauspielerin einsetzte. Für ihre Propagandafilme setzte Letztere Kameraleute ein, die sie aus den Bergfilmen kannte und die für eine moderne Ästhetik sorgten, die beim NS-Regime gut ankam. Allerdings kam Walter Frentz nicht aus dieser Schule (S. 13), sondern vom Amateurfilm.

Beim Filmschaffen der Deutschen Film AG (DEFA) in der DDR verallgemeinert Bräutigam zu sehr, verzichtet auf wichtige Feinheiten und reduziert es auf eine staatsgelenkte, unfreie Produktion. „Das Einsickern von Realitätssplittern in die ansonsten hochideologische und propagandistische Dokumentarfilmproduktion war Teil eines (auch internationalen) Trends in der ersten Hälfte der sechziger Jahre.“ (S. 16) Eine kritische Perspektive sei nicht von den Filmemacherinnen und Filmemachern eingenommen worden, sondern durch „die unverblümten Äußerungen der selbstbewussten und mutigen Protagonisten“ (S. 18). Trotzdem mussten diese Realitätssplitter in den Film aufgenommen und im System durchgesetzt werden.

Es ist ebenfalls zu einfach, in Westdeutschland davon zu sprechen, dass die US-amerikanischen, der Umerziehung dienenden Marshallplanfilme nicht erfolgreich waren, denn sie hatten ein Millionenpublikum. Es stimmt, dass es in der Bundesrepublik eine starke personelle, thematische und ästhetische Kontinuität zum NS-Kulturfilm gab, doch einen aufklärerischen Dokumentarfilm einzig dem neuen Fernsehen zuzusprechen, ist eine fatale Verkürzung. Zumindest werden so einige der für das Fernsehen produzierten Filme von Eberhard Fechner, Klaus Wildenhahn, Hans-Dieter Grabe, Dieter Ertel, Roman Brodmann, Wilhelm Bittorf oder Peter Nestler in dem Buch berücksichtigt. Allerdings gab es beim Süddeutschen Rundfunk nicht die Redaktion „Zeichen der Zeit“ (S. 20), vielmehr handelte es sich dabei um eine Sendereihe der sehr innovativen Dokumentarabteilung. Treffend dagegen ist die Beobachtung, dass die Katalysatoren für ästhetische Neuerungen technischer Natur waren, zunächst in Form der synchronen 16-mm-Kamera, später im Zuge der Digitalisierung von Kamera und Schnitt.

Das Buch konzentriert sich stark auf Filmwerke und ihre Macherinnen und Macher. Die Produktionsbedingungen wie das inzwischen durchaus schwierige Verhältnis von Fernsehen und Dokumentarfilmszene oder die wichtige Funktion der regionalen, nationalen und europäischen Filmförderung seit Ende der 1980er-Jahre werden überhaupt nicht thematisiert. Bräutigams Bilanz zum deutschen Dokumentarfilm: „Der späte Aufstieg des Dokumentarfilms von der grauen Fernseh-Maus zum Kino-Star ist wohlwollend zu registrieren.“ (S. 26) Trotz der erwähnten Schwächen bleibt das Buch „Klassiker des deutschsprachigen Dokumentarfilms“ ein guter Einstieg in das Thema, der motivieren kann, sich intensiver mit dem Dokumentarfilm zu beschäftigen.

Anmerkungen:
1 Thomas Bräutigam, Hispanistik im Dritten Reich. Eine wissenschaftsgeschichtliche Studie, Dissertationsschrift, Berlin 1995.
2 Ders. (Hrsg.), Lexikon der Film- und Fernsehsynchronisation. Stars und Stimmen: Wer synchronisiert wen in welchem Film? Mehr als 2000 Filme und Serien mit ihren deutschen Synchronsprechern, Berlin 2001.
3 Ders. (Hrsg.), Stars und ihre deutschen Stimmen. Lexikon der Synchronsprecher, Marburg 2013.
4 Ders. / Nils Daniel Peiler (Hrsg.), Film im Transferprozess. Transdisziplinäre Studien zur Filmsynchronisation, Marburg 2015.
5 Thomas Bräutigam, Hörspiel-Lexikon. 400 Original-Hörspiele von 1924–2004, Konstanz 2005.
6 Ders., Klassiker des Fernsehfilms. Das Beste aus 60 Jahren Fernsehgeschichte, Marburg 2013.

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